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Die Kraft der inneren Bilder im Yoga: Von der Worthülse zur Realität 
Wie die Yoga Bildsprache Dir beim Alltagsstress helfen kann

Bilder, die wir in unserer Vorstellung abrufen und entstehen lassen, besitzen eine inhärente Kraft und sind ein wichtiger Bestandteil des Kundalini Yogas. Nicht selten hören wir in einer Yogastunde Sätze wie: “Spüre in Dein Herz hinein”, “Geh in die Kraft des Kriegers”, “verbinde Dich mit Deinem inneren Feuer”. An der Oberfläche können diese Sätze wie Floskeln und kitschige Worthülsen klingen. Doch in dieser Bildsprache liegt ein grosser Schatz des Kundalini Yogas (und auch anderer Yogaformen und Übungswege).

Vielleicht denkst Du jetzt, was es überhaupt mit der Kraft der inneren Bilder auf sich hat. Schliesse Deine Augen und stell Dir vor, Du beisst in eine saftige Zitrone. Was passiert in Deinem Mund? Mit Deinem Speichelfluss? Bei den meisten Menschen reicht allein die Vorstellung in eine Zitrone zu beissen, um entsprechende Körpersymptome auszulösen (Mund zieht sich zusammen, Speichelfluss erhöht sich). Eine erste Begegnung mit der Kraft der Bildsprache und Vorstellung.

Mit der Bildsprache ins Hier-und-Jetzt stärkt die Freude und Lebenskräfte

Durch Bildsprache können wir einen direkten Bezug zu den Körperübungen herstellen, wodurch diese Übungen greifbarer, lebendiger werden. Ein wichtiger Bestandteil des Kundalini Yogas sind Körperhaltungen (asanas oder kriyas) die, ähnlich wie im Hatha Yoga, eine gewisse Symbolik ausstrahlen.

Wir könnten diese Körperhaltungen auch Körpergedichte nennen. Denn indem Du die Übungen bewusst und achtsam ausführst, verbindest Du Dich mit einem inneren Bild. Das hat nicht nur Auswirkungen auf Deinen Körper, sondern auch auf Deine Psyche, Deine Seele. Durch diese Kombination bewusster Körperhaltung und Bilder werden die Übungen lebendig und können ihre Wirkungen entfalten. Nehmen wir die Stellung des Kriegers. Für diese Stellung gehst Du in die Kraft Deiner Beine, besonders Deiner Oberschenkel. Ein Bild der Willensstärke, Motivation und Intention. Deine Arme und Dein Blick sind klar nach vorne ausgerichtet, wodurch Du Deinen mentalen Fokus stärkst. Indem Du Dich während der Übung mit dem Bild des fokussierten, klar ausgerichteten und standhaften Kriegers verbindest, lässt Du diese Körperhaltung innerlich lebendig werden. Die Bewegung wird persönlich. Du machst Dir die Kräfte des Kriegers zu eigen, kommst in eine direkte Erfahrung. Es ist diese direkte Erfahrung, die vitalisierend auf den Körper wirkt.

In der Regel gilt: Je achtsamer und bewusster wir eine Handlung ausführen, desto vitalisierender wirkt sie. Probiere das direkt bei Deinem nächsten Spaziergang durch die Natur.

Wie fühlt es sich an, passiv, in Gedanken verloren, durch die Natur zu gehen? Gehe ein paar Schritte weiter und nehme bewusst jeden Schritt wahr. Lege Deine Aufmerksamkeit auf das, was Du siehst, riechst oder hörst. Wie fühlt sich dieses bewusste Erleben an?

Wahrscheinlich wirst Du Dich lebendiger, belebter fühlen. Ähnliches passiert, wenn wir uns bewusst mit der Bildsprache der Körperübungen verbinden. Wir haben einen direkteren und bewussteren Zugang zu unserer Körperübung im Hier-und-Jetzt. Das ist von Vorteil. Denn je mehr wir mit unserem Tun im Hier-und-Jetzt sind, desto mehr Freude können wir im Hier-und-Jetzt empfinden und desto weniger sind wir von externen Stimuli wie Social Media, Koffein, Konsum abhängig.

Die Bildsprache als Schutz gegen Stress

Herausforderungen sind im Alltag allgegenwärtig und nicht selten fühlen wir uns überwältigt, hilflos, gelähmt. Durch die Bildsprache der Yogaübungen können wir das, was wir auf der Matte praktizieren, intensiver und nachhaltiger verinnerlichen. Die Übungen sind dadurch greifbar und abrufbar, wenn wir sie im Alltag brauchen. Was ist damit gemeint?

Zurück zum Bild des Kriegers. Indem wir durch eine regelmässige Praxis eine persönliche Beziehung zu dieser Übung und diesem Bild aufbauen, kann uns dessen verinnerlichte Qualität aus der Hilflosigkeit verhelfen. Wir kommen in unseren Körper, unsere Kraft, nehmen unsere Stärke bewusst wahr. Diese Verinnerlichung strahlen wir aus und wir wirken kraftvoller nach Aussen. Ferner beruhigt sich unser Stresssystem. Aus dieser Ruhe heraus können nachhaltige Impulse entstehen. Das kann vor allem in Stresssituation wie einem Bewerbungsgespräch oder einer Gehaltsverhandlung hilfreich sein.

Auch wenn wir nicht direkt in die Körperhaltung kommen können, hat selbst das innere Abrufen des Kriegers oder einer anderen Körperhaltung, dem Baum zum Beispiel, einen beruhigenden und stärkenden Effekt auf Dein Befinden und Dein Stresssystem. Es ist wahrlich die Kraft der inneren Bilder, die auch eine Grundlage des mentalen Training ist. Dieses innerliche Abrufen können wir dadurch stärken, indem wir unsere Yogapraxis bewusst mit diesen innerlichen Bildern ausführen (”starke, fokussierte Kriegerin”). Dieser Prozess wird auch Embodiment (“Verkörperlichung”) genannt. Denn um Einsichten auch wirklich in die Tat umsetzen zu können, braucht es ein leibliches Erfahren dieser Einsichten. Ähnlich wie das “Es-hat-Klick-gemacht” Gefühl. Denn sonst bleiben Einsichten nur graue, leblose Theorie. Indem wir uns aktiv mit der Bildsprache der Körperübungen im Yoga verbinden, werden die Einsichten greifbar, spürbar, erfahrbar. Ich höre mich nicht nur im Krieger sagen, dass ich stark bin. Ich fühle mich stark. Hey – ich bin stark!

Rein in die Bildsprache, raus aus den Reiz-Reaktionsmustern

Zu Yogaübungen gehören neben den Körperübungen auch Atemübungen und Meditationen. Das Bild eines rot-gelben, flammenförmigen Feueratems spendet uns Kraft und Fokus. Auch wenn ich ab und an einen Kaffee oder Matcha Tee trinke, halte ich vorher inne und gehe in eine kräftige Feueratmung. Das Bild des rot-gelben flammenförmigen Atems hilft mir, mich mit der Atmung zu verbinden und sie bewusst und achtsam auszuführen. Nicht selten schwindet der Impuls und ich verschiebe meinen Kaffe, Matcha auf einen anderen Zeitpunkt.

Wenn wir im Alltag mit Herausforderungen konfrontiert sind, gerät unser Nervensystem schnell in eine Hyperaktivität. Das Herz schlägt schneller und wir fühlen uns von unseren Emotionen überwältigt. Es sind diese “Schmerzmomente”, in denen wir nur schwer verweilen können und stattdessen zum Handy greifen, uns mit Instagram Posts beschäftigen oder zu hochkalorischem Essen greifen, um unser Nervensystem zu beruhigen. Leider lernt unser Nervensystem dadurch, dass wir nicht in der Lage sind, es selber zu beruhigen und stattdessen Instagram oder sonstige Substanzen brauchen. Doch der wahre Schatz wohnt uns allen inne und ist jederzeit zugänglich. Und das ist unser Atem. Aus dem Kundalini Yoga können wir zum Beispiel die Sitaliatmung im Alltag praktizieren. Wir atmen durch den Mund über die gerollte Zunge ein und durch die Nase aus. Die Einatmung hat eine kühlende Qualität, während die Ausatmung eine wärmende Qualität besitzt. Wir können die Einatmung mit Kühle, der Farbe Blau, vielleicht auch Wasser verbinden. Wenn wir durch die Nase ausatmen, gleicht die Ausatmung einem wärmenden Lichtstrom, der uns umwebt. Indem wir uns bewusst mit der Bildsprache der Sitaliatmung verbinden, beruhigen wir unser Nervensystem. Ein angenehm blauer, beruhigender Atemstrom fliesst in unsere Lungen, unseren Körper, unser Herz. Der wärmende Lichtstrom umwebt, umhüllt uns und bringt uns in einen regulierten Zustand der Ruhe. Unser Nervensystem lernt, dass wir es liebevoll regulieren können. Wir lernen, dass uns diese Möglichkeit innewohnt. Wir können uns regulieren und wir haben die Freiheit, unsere Reiz-Reaktion Muster bewusst zu verändern. Die Bildsprache des Yogas kann uns darin unterstützen.

Diese Dinge können sehr plakativ klingen. Liest man sie nicht oft in Ratgebern, Büchern und doch geht es genau um diese kleinen grossen Moment des Innehaltens, des Beobachtens und des Reflektierens. Es sind diese scheinbar kleinen Momente im Alltag, in denen wir aus unserer Komfortzone treten, Neuland entdecken und wachsen. Nicht selten suchen wir nach grossen Momente, in denen wir eine ganz klare, greifbare Transformation erleben. Diese Momente kann es in der Tat geben. Doch auch in den kleinen Momenten liegt eine grosse Kraft, denn durch sie etablieren wir neue Verhaltensmuster und neue Routinen, so dass letztendlich eine Transformation stattfinden kann.

Bildsprache und heutige Wissenschaft

Die essentielle Wirkung der Bildsprache entzieht sich heutigen wissenschaftlichen (empirischen) Messmethoden. Ähnlich wie wir die Wirkung eines Gedichts, oder genauer gesagt den Mechanismus der Wirkung eines Gedichts, auf Körper und Seele im Labor nur schwer messen und festhalten können, entzieht sich die genaue Wirkung der Bildsprache den heutigen Messgeräten. Jedoch gibt die Wissenschaft Hinweise auf positive Effekte von bestimmten Körperübungen beziehungsweise Körperhaltungen und die damit einhergehende Bildsprache auf Körper und Psyche. Die bekannte Sozialpsychologin Prof. Dr.  Amy Cuddy erforscht unter anderem die Wirkung von Körpersprache und ist bekannt für ihren TED Talk zu Power Poses. Amy Cuddy adressiert (meines Wissens nach) nicht explizit mentale Bilder, die mit diesen Power Posen einhergehen, sondern geht auf die direkte Wechselwirkung zwischen Körperhaltung, Physiologie, mentalen und emotionalen Prozessen ein. Jedoch scheint es nicht fern anzunehmen, dass Power Poses mit bestimmen Ideen und inneren Bildern einhergehen und vielleicht gerade deshalb ihre positive Wirkung auf Körper, Geist und Seele entfalten.

Auch führende Spitäler und Krankenhäuser empfehlen die Anwendung von inneren Bildern und Visualisierungen (engl: guided imagery) für diverse gesundheitliche Anliegen wie zum Beispiel das Stärken der Selbstregulation und der Umgang mit Stress, Ängsten und depressiven Symptomen (-> Johns Hopkins und Harvard Spitäler). Auch aus der Psychotherapie ist die Anwendung der inneren Bilder und Imagination nicht mehr wegzudenken.

Indem wir uns zum Beispiel innerlich mit einem schönen friedvollen Ort verbinden, können wir im Alltagsstress Körper und Geist eine Ruhepause schenken. Sich vorzustellen, wie sich eine angenehme Farbe durch den Körper webt, kann bei Angstzuständen beruhigend wirken. Dies sind nur ein paar Beispiele, wie innere Bilder und Vorstellungen im Alltag ihre Anwendung finden.

Die innere Bildsprache ist ein wahrer Schatz, den wir alle in uns tragen. Durch die Kraft der inneren Bilder kannst Du Deine Yoga Praxis intensivieren und verlebendigen. Die Kraft der inneren Bilder kann zu Deiner Stressresilienz beitragen und Dich darin stärken, Dein Yoga von der Matte in den Alltag zu bringen. Letzten Endes geht es im Yoga genau darum. Einheit und Frieden in den Herausforderungen des Alltags zu finden. Nutze die Bildsprache, um Dir diese Suche zu erleichtern.

Für ein Beispiel des Kriegers schau bei Minute 16:40 des folgenden Videos rein

Für eine Anleitung zur Sitaliatmung geht es hier entlang

Prof. Dr. Amy Cuddys TED Talk zum Thema Power Poses